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                     Vorwort




                     Kafka zwischen zwei Zügen















                     Gespanntes Warten am Bahnhof Langenau. «Der Interregio-Express 3202  Vieles ging mir damals durch den Kopf. Auf dem Weg in mein Quartier
                     mit planmäßiger Abfahrt 8:15 Uhr entfällt wegen Erkrankung des Zug-     in der Prager Altstadt begegneten mir Scharen von Touristen – schnell
                     führers», so ist plötzlich auf der Anzeige zu lesen.                    wurde mir klar: Für die Fotos, die ich machen wollte, musste ich abge-
                     Das fängt ja gut an. Meine Frau ist gerade dabei, mir vom nahe gele ge-  legene Orte finden und die bekannten Sehenswürdigkeiten zu sehr früher
                     nen Supermarkt noch eine Flasche Wasser zu besorgen – zum Glück.        oder später Tageszeit ablichten. Was eigentlich gut passte – war doch
                     Kaum dass sie mit dem Auto vorgefahren ist, teile ich ihr mit, dass     auch Kafka mit Vorliebe nachts unterwegs. Gesagt, getan. Ich wurde zum
                     der Zug heute ausfällt und ich umdisponieren muss – wir brechen nach    Flaneur der Dämmerung. So gelang mir das Bild auf Seite 12 erst im
                     Aalen auf, wo ich hoffentlich einen Anschluss nach Nürnberg erreiche.   vierten Anlauf um vier Uhr morgens. Zuvor war die Karlsbrücke von
                     Nach vierzigminütiger Zitterpartie: Aufatmen. Der Zug fährt los – und   Dutzenden Nachtschwärmern belagert gewesen, und kurz darauf kamen
                     ich mit ihm.                                                            schon die ersten Hochzeitspaare. Trotz der empfindlich niedrigen Tempe­
                     Während des Umsteigens in Cheb lerne ich einen sympathischen Mann       raturen posierten die leicht bekleideten Bräute, oft barfüßig, zum Teil mit
                     kennen, der mich an die Titelfigur aus dem Film Die Abenteuer des braven   akrobatischen Einlagen und mit immer dem gleichen Lächeln im Gesicht.
                     Soldaten Schwejk (1976) erinnert, besser gesagt an Fritz Muliar, der in   Ich verließ die wohl meistfotografierte Touristenattraktion Prags mit
                     der Hauptrolle zu sehen war. Bald schon duzen wir uns, und ich darf     einem Gefühl der Freiheit und war froh, mit meiner Leica auf den Spuren
                     ihn «Schwejk» nennen – die Ähnlichkeit ist ihm schon durch andere       Kafkas wandeln zu dürfen. Ich genoss es, auf dem Weg zu meinem
                     Begeg nungen bekannt. Unsere gemeinsame Zugfahrt nach Prag vergeht      Quartier durch die noch fast menschenleeren Gassen zu flanieren, und
                     wie im Flug.                                                            beseelt durch den Erfolg, mein «Karlsbrückenbild» im Kasten zu haben,
                     Da stehe ich nun zum ersten Mal in meinem Leben in der Goldenen         entdeckte ich weitere interessante Motive. Immer wieder kam es vor, dass
                     Stadt. Mein Ziel: «Kafkas Kosmos» aufzuspüren und in Schwarz-Weiß-      auf meinen nächtlichen oder frühmorgendlichen Touren plötzlich eine
                     Fotografien festzuhalten. Wird es mir gelingen?                         Gruppe Grölender die Stille durchbrach. Ich ließ mich nicht beirren.








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